Unter dem Motto “Licht!” entstanden zwischen dem Acht Brücken Festival, Stadtgarten Köln und NICA artist development vier Auftragskompositionen für Stummfilme: Pianistin Marlies Debacker interpretiert »Ballet Mécanique« im Quintett. Saxophonist Jonas Engel kleidet Abgründe mit Asta Nielsen in der Hauptrolle in neue Klänge. Andy Warhols unbewegten Experimentalfilm »Empire« vertont Saxophonist Fabian Dudek, während Schlagzeuger Thomas Sauerborn mit »Man with a Movie Camera« das Alltagsleben in Kiew, Charkiw und Odessa 1929 neu beleuchtet.
Dsiga Wertows »Man with a Movie Camera« hat in den 95 Jahren seit seiner Veröffentlichung nicht an Aussagekraft verloren: Als Experiment einer universellen Kinosprache erhielt der Stummfilm, der ganz ohne Zwischentitel auskommt, bereits diverse musikalische Interpretationen. Der Film, dessen Struktur – wie nach musikalischen Parametern – ihren Rhythmus findet, saugt Zuschauende förmlich in das Leben in Kiew, Charkiw und Odessa im Jahr 1929. Diesen Sog verstärkt die Komposition Thomas Sauerborns, inspiriert von der Symbiose aus Film- und Kameratechniken auf der einen Seite und des Realismus der Bilder auf der anderen.
Sauerborn, gemeinsam mit zwei Wegbegleitern der Formation Das Ende Der Liebe, holt zwei Posaunistinnen in dieses Ensemble und öffnet damit den Raum zwischen den atmenden Bläser:innen, den manipulierten Klängen des Nintendo Gameboy und Live Samplings. Gemeinsam bringen sie den Alltag und Rhythmus von 1929 ins heute – stellen ihn dem Leben und den Klängen des 21. Jahrhunderts gegenüber.
Ist das überhaupt ein Film? Soweit man die Frage bejahen will, ist es ein Film, der der meisten Attribute entledigt ist, die das bewegte Bild gemeinhin von einem Foto unterscheiden. Eine starre Kameraeinstellung fixiert die Spitze des Empire State Building. Über sechs Stunden Zelluloid hat Andy Warhol auf diese Weise belichtet, ganz ohne Ton, von der einsetzenden Dämmerung bis tief in die Nacht. Nach Anweisung der New Yorker Avantgarde-Ikone ist das Material in 16 statt in 24 Bildern pro Sekunde zu projizieren und kommt so auf eine Aufführungsdauer von über 8 Stunden. Ein stehendes Bild noch zu verlangsamen, das hat schon eine philosophische Dimension.
Im Stadtgarten Köln wird der Film in voller Länge zu sehen sein. 50 Minuten werden der Saxophonist und Komponist Fabian Dudek und sein Quintett mit einem eigenen Soundtrack bespielen. Es ist die Phase des Übergangs vom Tag zur Nacht, von Hell nach Dunkel, eine sehr allmähliche, für das zeitliche Auflösungsvermögen des Auges kaum wahrnehmbare, aber doch drastische Veränderung. Wird der Kontrast musikalisch akzentuiert? Das stehende Bild akustisch in Bewegung gesetzt oder in Klangfarben übermalt? Dudek will das Projekt mit einer eigenen neuen Kompositionstechnik angehen.
Jonas Engels ältere Arbeit »What the Wild flowers Witnessed« weckt Erinnerungen an den Song »Moaner« von Underworld aus dem Batman-Soundtrack von 1997 und treibt die Zuhörenden vor sich her. Ganz ähnlich nutzt auch das für diesen Anlass eigens zusammengestellte Trio die Juxtaposition von Instrumenten und Stimme – jedoch gleichberechtigter. Musikalische Räume reichen hier von sehr intim bis dramatisch. Es ermöglicht viel Platz für Interpretationen – passend zu Urban Gads »Abgrund«. Der Stummfilm von 1910 stellt auch große, freiheitliche Räume kleinen, sehr reglementierten gegenüber. Der Protagonistin, einer Hauslehrerin, wird von einem Pastorensohn im Dänemark der Entstehungszeit des Films der Hof gemacht, als bei einem Sommerbesuch im Ferienhaus der Eltern der Zirkus in der Stadt ist. Die Handlung eröffnet Abgründe zwischen Freiheit, Abhängigkeit, Einsperren und Gefühl. Ob diese letztendlich überwunden werden, bleibt im Auge der Betrachtenden. Engels Kompositionen nutzen Abgründe und geben Zuhörenden gleichermaßen die Möglichkeit, Halt zu finden oder sich noch mehr zu verlieren.
Und »Ballet mécanique«? Bei dem 15 Jahre jüngeren, französischen Stummfilm handelt es sich um den ersten Dada-Film! Post-kubistisch und auf jegliche Handlung verzichtend, sehen wir allerlei alltägliche Gegenstände wie Töpfe oder Geschirr, dabei jedoch so abstrahiert, dass sie uns nicht mehr vertraut scheinen, sondern vielmehr als ihre Form wirken. Ein rhythmisches Spiel der Objekte, zu dem Marlies Debacker eine nicht-plakative Untermalung schaffen wird, bei sich komponierte, zufällige und improvisierte Klangaktionen überlagern und einladen, eigene Zusammenhänge in einem mannigfaltigen Gewebe an Ton-Bild- und Ton-Ton-Beziehungen zu entdecken. Ein Werk irgendwo zwischen musique concrète, musique concrète instrumentale, Drones und pulsierenden Texturen.
Diese Konzerte werden in Kooperation von ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln, dem Europäischen Zentrum für Jazz und Aktuelle Musik Stadtgarten Köln und NICA artist development veranstaltet.